Die moralische Grundlage des Vegetarismus (Mahatma Gandhi, London, 1931)

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Mahatma Gandhi in London (10 Downing Street), am 26. September 1931


--- Rede von Mohandas „Mahatma“ Gandhi vor einer von der London Vegetarian Society organisierten Versammlung in London am 20. November 1931 ---

„Die moralische Grundlage des Vegetarismus

Herr Vorsitzender, liebe Anwesende, die Sie auch Vegetarier sind, liebe Freunde,

ich muss Ihnen nicht sagen, wie erfreut ich war, als ich die Einladung erhielt, an diesem Treffen anwesend zu sein, weil es alte Erinnerungen wieder aufleben ließ von angenehmen Freundschaften mit anderen Vegetariern. Ich fühle mich besonders geehrt, zu meiner Rechten Herrn Henry Salt vorzufinden. Es war das Buch von Herrn Salt „A plea for vegetarianism“ [Ein Appell für den Vegetarismus], das mir gezeigt hat, warum es – abgesehen von einer vererbten Angewohnheit und abgesehen davon, dass ich mich an ein Gelübde gehalten habe, das mir meine Mutter auferlegt hat – richtig war ein Vegetarier zu sein. Er zeigte mir, warum es für Vegetarier eine obligatorische moralische Pflicht ist, sich nicht von anderen [nicht-menschlichen] Tieren zu ernähren. Es ist deshalb ein Anlass für zusätzliche Freude für mich, dass Herr Salt hier unter uns ist.

Ich will hier nicht Ihre Zeit verschwenden, indem ich Ihnen meine unterschiedlichen Erfahrungen des Vegetarismus mitteile, und ich will Ihnen auch nichts über die große Schwierigkeit erzählen, hier in London standhafter Vegetarier zu bleiben, aber ich würde gerne einige meiner Gedanken mit Ihnen teilen, die sich in mir in Verbindung mit Vegetarismus entwickelt haben. Vor vierzig Jahren habe ich mich viel unter Vegetariern aufgehalten. Es gab zu der Zeit kaum ein vegetarisches Restaurant in London, das ich noch nicht besucht hatte. Aus Neugier legte ich großen Wert darauf in London die Möglichkeiten des Vegetarismus und von vegetarischen Restaurants zu erkunden und jedes einzelne zu besuchen. Natürlich kam ich deshalb in engen Kontakt mit vielen Vegetariern. Ich fand heraus, dass sich die Gespräche bei Tisch hauptsächlich um die Themen Essen und Krankheit drehten. Ich fand ebenfalls heraus, dass die Vegetarier, die es schwierig fanden am Vegetarismus festzuhalten, es aus gesundheitlichen Gründen schwer fanden.

Ich weiß nicht, ob Sie heutzutage solche Debatten haben, aber ich besuchte zu der Zeit Diskussionsrunden, die unter verschiedenen Vegetariern, und solche, die mit Vegetariern und Nicht-Vegetariern abgehalten wurden. Ich erinnere mich an eine solche Diskussionsrunde, zwischen Dr. Densmore und Dr. T. R. Allinson. Zu der Zeit hatten Vegetarier eine Angewohnheit, von nichts außer Essen und Krankheit zu reden. Mir scheint es, dass das der schlechtmöglichste Weg ist, mit dem Thema umzugehen. Ich habe auch bemerkt, dass es diejenigen Personen sind, die Vegetarier werden, weil sie an irgendeiner Krankheit leiden – das heißt, rein aufgrund von gesundheitlichen Gesichtspunkten – auch die Personen sind, die den Vegetarismus wieder aufgeben. Ich habe entdeckt, dass man, um dem Vegetarismus treu zu bleiben, eine moralische Grundlage benötigt.       

Für mich war das eine großartige Entdeckung auf meiner Suche nach Wahrheit. In frühem Alter, im Lauf meiner Experimente, fand ich heraus, dass eine eigennützige Grundlage nicht den Zweck erfüllen würde, den Menschen auf den Wegen der Evolution höher und höher zu befördern. Was benötigt wurde, war eine altruistische Absicht. Ich fand ebenfalls heraus, dass Gesundheit keineswegs das Monopol von Vegetariern war. Ich bemerkte, dass viele Leute weder eine voreingenommene Tendenz zur einen noch zur anderen Seite zeigten und dass Nicht-Vegetarier im Allgemeinen eine gute Gesundheit aufweisen konnten. Ich entdeckte auch, dass einige Vegetarier es unmöglich fanden Vegetarier zu bleiben, weil sie das Essen zu einem Fetisch gemacht hatten und weil sie dachten, dass sie, indem sie Vegetarier würden, so viele Linsen und Bohnen und so viel Käse essen könnten, wie sie wollten. Natürlich schafften es diese Leute nicht gesund zu bleiben.

Indem ich auf diese Weise Beobachtungen machte, sah ich, dass man mäßige Mengen essen und ab und zu fasten sollte. Kein Mann und keine Frau aßen wirklich mäßige Mengen oder konsumierten nur die Menge, die der Körper benötigt – und nicht mehr. Wir fallen den Versuchungen des Gaumens leicht zum Opfer und deshalb macht es uns, wenn etwas köstlich schmeckt, nichts aus einen Happen oder zwei mehr zu essen. Aber man kann unter diesen Umständen nicht gesund bleiben. Demzufolge habe ich entdeckt, dass es, um gesund zu bleiben, notwendig ist, die Menge an Essen und die Anzahl der Mahlzeiten zu reduzieren (egal was wir essen). Werden Sie moderat; essen sie lieber weniger anstatt mehr. Wenn ich Freunde zum Essen einlade, dränge ich sie nie dazu, mehr zu essen, als sie benötigen. Im Gegenteil – ich sage ihnen, dass sie sich nichts nehmen sollen, wenn sie es nicht wollen.

Worauf ich Ihre Aufmerksamkeit lenken will, ist, dass Vegetarier tolerant sein müssen, wenn sie andere vom Vegetarismus überzeugen wollen. Seien sie etwas bescheiden. Wir sollten den Sinn für Moral derjenigen ansprechen, die nicht mit uns übereinstimmen. Wenn ein Vegetarier krank werden würde und ein Arzt ihm Rinderbrühe verschreiben würde, würde ich ihn nicht als Vegetarier bezeichnen. Ein Vegetarier ist aus härterem Holz geschnitzt. Warum? Weil es um den Aufbau des Geistes, nicht um den Aufbau des Körpers geht. Der Mensch ist mehr als Fleisch. Uns ist der Geist des Menschen wichtig. Deshalb sollten Vegetarier diese moralische Grundlage haben – dass ein Mensch nicht als fleischfressendes Tier geboren wurde, sondern, um sich von den Früchten und Kräutern, die die Erde hervorbringt, zu ernähren. Ich weiß, dass wir alle Fehler machen müssen. Ich würde den Konsum von Milch aufgeben, wenn ich könnte, aber ich kann es nicht. Ich habe dieses Experiment schon unzählige Male gemacht. Ich konnte, nach einer schweren Krankheit, meine Kraft nicht wieder zurückerlangen, ohne dass ich wieder anfing Milch zu konsumieren. Das ist die Tragödie meines Lebens. Aber die Grundlage meines Vegetarismus ist nicht körperlich, sondern moralisch. Wenn jemand sagen würde, ich müsste sterben, wenn ich nicht Rinderbrühe oder Hammelfleisch essen würde, sogar auf Anraten eines Arztes, dann würde den Tod bevorzugen. Das ist die Grundlage meines Vegetarismus.     

Ich würde gerne glauben, dass alle, die wir uns Vegetarier nennen, diese Grundlage hätten. Es gab tausende von Fleischessern, die nicht Fleischesser blieben. Es muss einen bestimmten Grund geben, aus dem wir diese Veränderung in unserem Leben machten, dass wir Gewohnheiten und Sitten annahmen, die in der Gesellschaft unüblich sind, auch wenn diese Veränderung manchmal diejenigen, die uns am nächsten und wichtigsten sind, kränkt. Aus keinem Grund der Welt sollten Sie einen moralischen Grundsatz opfern. Deshalb ist die einzige Grundlage für eine vegetarische Gesellschaft und das Ausrufen eines vegetarischen Prinzips eine moralische Grundlage und so muss es sein. Ich werde Ihnen nicht sagen, so wie ich es sehe und während ich durch die Welt reise, dass Vegetarier generell viel gesünder sind als Fleischesser. Ich gehöre einem Land an, das aufgrund von Gewohnheit oder Notwendigkeit überwiegend vegetarisch ist. Deshalb kann ich nicht bezeugen, dass dies zu viel größerer Ausdauer, viel mehr Mut oder einem viel größeren Freisein von Krankheiten führt. Denn es ist eine eigenartige, persönliche Angelegenheit. Es erfordert Gehorsam, und zwar gewissenhaften Gehorsam, gegenüber allen Gesetzen der Gesundheitspflege.

Deshalb denke ich, dass Vegetarier nicht die körperlichen Konsequenzen des Vegetarismus betonen, sondern die moralischen Konsequenzen erkunden sollten. Während wir noch nicht vergessen haben, dass wir viele Dinge mit den Tieren gemeinsam haben, erkennen wir nicht genügend, dass es gewisse Dinge gibt, die uns von Tieren unterscheiden. Natürlich gibt es vegetarische Tiere wie Kühe und Bullen – die bessere Vegetarier als wir sind – aber es gibt etwas viel Höheres, das uns zum Vegetarismus ruft. Deshalb habe ich gedacht, dass ich während der wenigen Minuten, während derer ich das Privileg habe zu Ihnen sprechen zu können, einfach die moralische Grundlage des Vegetarismus betonen würde – und ich würde sagen, dass ich basierend auf meiner eigenen Erfahrung und der Erfahrung von tausenden von Freunden und Gefährten bemerkt habe, dass sie Befriedigung finden in Bezug auf Vegetarismus durch die moralische Grundlage, die sie gewählt haben, um ihren Vegetarismus aufrechtzuerhalten. Schließend danke ich Ihnen allen dafür, dass sie hierhergekommen sind und mir ermöglicht haben Vegetarier persönlich zu treffen. Ich kann nicht sagen, dass ich Sie vor vierzig oder zweiundvierzig Jahren schon hier antraf. Es scheint, die Gesichter der London Vegetarian Society haben sich geändert. Es gibt weniger Mitglieder, die wie Herr Salt, behaupten können, schon seit über vierzig Jahren mit der Society verbunden zu sein.“

Gandhi beim Treffen der London Vegetarian Society, mit Henry Salt (mit Bart und Fliege) rechts hinter Gandhi.




UPDATE 10. August 2022
Dieser Text wurde auch posthum (1959) in einem Buch, das ebenfalls den Titel "The Moral Basis of Vegetarianism" trägt, veröffentlicht. Allerdings fehlen in diesem Buch die einleitenden Worte "Mr. Chairman, Fellow Vegetarians, and Friends" (ganz am Anfang) und es findet sich ein zusätzlicher Satz ganz am Ende: "Zum Schluss möchte ich Sie bitten, mir Fragen zu stellen, wenn Sie möchten, denn ich stehe Ihnen für ein paar Minuten zur Verfügung."

Auf YouTube habe ich ein Video gefunden, das Gandhis Ankunft in England aus Frankreich im Jahr 1931 dokumentiert. Er brachte Ziegenmilch für sich selbst mit (bzw. ließ sie sich mitbringen). Video: Mahatma Gandhi Arrives in the U.K. (1931) | British Pathé; aktueller Link


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ENGLISH ORIGINAL BELOW:

From the website of the International Vegetarian Union (IVU):

“The The Moral Basis of Vegetarianism
from EVU News, Issue 1 /1998
Speech delivered by Gandhi at a Social Meeting organised by the London Vegetarian Society, 20 November 1931

Mr[.] Chairman, Fellow Vegetarians, and Friends,

when I received the invitation to be present at this meeting, I need not tell you how pleased I was because it revived old memories and recollections of pleasant friendships formed with vegetarians. I feel especially honoured to find on my right, Mr. Henry Salt. It was Mr. Salt’s book ‘ A Plea for Vegetarianism’, which showed me why apart from a hereditary habit, and apart from my adherence to a vow administered to me by my mother, it was right to be a vegetarian. He showed me why it was a moral duty incumbent on vegetarians not to live upon fellow-animals. It is, therefore, a matter of additional pleasure to me that I find Mr. Salt in our midst.

I do not propose to take up your time by giving you my various experiences of vegetarianism nor do I want to tell you something of the great difficulty that faced me in London itself in remaining staunch to vegetarianism, but I would like to share with you some of the thoughts that have developed in me in connection with vegetarianism. Forty years ago I used to mix freely with vegetarians. There was at that time hardly a vegetarian restaurant in London that I had not visited. I made it a point, out of curiosity, and to study the possibilities of vegetarianism and vegetarian restaurants in London, to visit every one of them. Naturally, therefore, I came into close contact with many vegetarians. I found, at the tables, that largely the conversation turned upon food and disease. I found also that the vegetarians who were struggling to stick to their vegetarianism were finding it difficult from the health point of view.

I do not know whether, nowadays, you have those debates, but I used at that time to attend debates that were held between vegetarians and vegetarians and between vegetarians and non-vegetarians. I remember one such debate, between Dr. Densmore and the late Dr. T. R. Allinson. Then vegetarians had a habit of talking of nothing but food and nothing but disease. I feel that that is the worst way of going about the business. I notice also that it is those persons who become vegetarians because they are suffering from some disease or other – that is, from purely the health point of view – it is those persons who largely fall back. I discovered that for remaining staunch to vegetarianism a man requires a moral basis.

For me that was a great discovery in my search after truth. At an early age, in the course of my experiments, I found that a selfish basis would not serve the purpose of taking a man higher and higher along the paths of evolution. What was required. was an altruistic purpose. I found also that health was by no means the monopoly of vegetarians. I found many people having no bias one way or the other and that non-vegetarians were able to show, generally speaking, good health. I found also that several vegetarians found it impossible to remain vegetarians because they had made food a fetish and because they thought that by becoming vegetarians they could eat as much lentil, haricot, beans and cheese as they liked. Of course those people could not possibly keep their health.

Observing along these lines, I saw that a man should eat sparingly and now and then fast. No man or woman really ate sparingly or consumed just that quantity which the body requires and no more. We easily fall to prey to the temptations of the palate, and therefore when a thing tastes delicious we do not mind taking a morsel or two more. But you cannot keep health under those circumstances. Therefore I discovered that in order to keep health, no matter what you ate, it was necessary to cut down the quantity of your food, and reduce the number of meals. Become moderate; err on the side of less, rather than on the side of more. When I invite friends to share their meals with me I never press them to take anything except only what they require. On the contrary, I tell them not to take a thing if they do not want it.

What I want to bring to your notice is that vegetarians need to be tolerant if they want to convert others to vegetarianism. Adopt a little humility. We should appeal to the moral sense of the people who do not see eye to eye with us. If a vegetarian became ill, and a doctor prescribed beef tea, then I would not call him a vegetarian. A vegetarian is made of sterner stuff. Why? Because it is for the building of the spirit and not of the body. Man is more than meat. It is the spirit in man for which we are concerned. Therefore vegetarians should have that moral basis – that a man was not born a carnivorous animal, but born to live on the fruits and herbs that the earth grows. I know we must all err I would give up milk if I could, but I cannot. I have made that experiment times without number. I could not, after a serious illness, regain my strength, unless I went back to milk. That has been the tragedy of my life. But the basis of my vegetarianism is not physical, but moral. If anybody said that I should die if I did not take beef tea or mutton, even on medical advice, I would prefer death. That is the basis of my vegetarianism.

I would love to think that all of us who called ourselves vegetarians should have that basis. There were thousands of meat-eaters who did not stay meat-eaters. There must be a definite reason for our making that change in our lives, from our adopting habits and cus-toms different from society, even though sometimes that change may offend those nearest and dearest to us. Not for the world should you sacrifice a moral principle. Therefore the only basis for having a vegetarian society and proclaiming a vegetarian principle is, and must be, a moral one. I am not to tell you, as I see and wander about the world, that vegetarians, on the whole, enjoy much better health than meat-eaters. I belong to a country which is predominantly vegetarian by habit or necessity. Therefore I cannot testify that that shows much greater endurance, much greater courage, or much greater exemption from disease. Because it is a peculiar, personal thing. It requires obedience, and scrupulous obedience, to all the laws of hygiene.

Therefore, I think that what vegetarians should do is not to emphasise the physical consequences of vegetarianism, but to explore the moral consequences. While we have not yet forgotten that we share many things in common with the beast, we do not sufficiently realise there are certain things which differentiate us from the beast. Of course, we have vegetarians in the cow and the bull -- which are better vegetarians than we are - but there is something much higher which calls us to vegetarianism. Therefore, I thought that, during the few minutes which I give myself the privilege of addressing you, I would just emphasise the moral basis of vegetarianism. And I would say that I have found from my own experience, and the experience of thousands of friends and companions, that they find satisfaction, so far as vegetarianism is concerned, from the moral basis they have chosen for sustaining vegetarianism. In conclusion, I thank you all for coming here and allowing me to see vegetarians face to face. I cannot say I used to meet you forty or forty-two years ago. I suppose the faces of the London Vegetarian Society have changed. There are very few members who, like Mr. Salt, can claim association with the Society extending over forty years.

Mr. Henry S. Salt was Assistant Master at Eaton 1875-1884, Honorary Secretary of the Humanitarian League, 1891-1919. He has been a vegetarian for over fifty years, and has never had reason to doubt the superiority of the diet. He was an octogenarian at the moment of Gandhi’s speech. and a writer whose opinion of the present ‘civilisation’ may be gathered from the title of his book ’Seventy years among Savages’.


UPDATE 10 August 2022
This text was also published posthumously in a book which is also titled "The Moral Basis of Vegetarianism" (1959). However, the "Mr. Chairman, Fellow Vegetarians, and Friends," at the very beginning is missing, and there is an additional sentence at the very end: "Lastly, I would like you, if you want to, to ask me any questions, for I am at your disposal for a few minutes."

On youtube I found a video documenting Gandhi's arrival in England from France in 1931. He was bringing (had other people bring) goat milk for himself. Video: Mahatma Gandhi Arrives in the U.K. (1931) | British Pathé; current link