Sind Darmbakterien eine verlässliche Quelle für Vitamin B12? (von Jack Norris)


This article in the English original: Are Intestinal Bacteria a Reliable Source of B12?


Zusammenfassung: Aufgrund der Tatsache, dass viele ansonsten gesunde Veganer einen Vitamin-B12-Mangel entwickeln, falls sie ihrer Ernährung kein zusätzliches B12 hinzufügen, sollte man sich als Veganer nicht darauf verlassen, dass Bakterien im eigenen Darm einen B12-Mangel verhindern können.






Inhalt

  • Bakterien im Dickdarm
  • Bakterien im Dünndarm
  • iranische Dorfbewohner
  • Schlussfolgerung
  • Quellenangaben


Sind Rohköstler oder Menschen, die fermentierte Produkte essen, eine Ausnahme? Nein. Siehe Rohkost-Veganer.


Bakterien im Dickdarm
Seit langem wird angenommen, dass Vitamin B12 von Bakterien im Dickdarm produziert wird – aber da Vitamin B12 unterhalb des Krummdarms produziert wird (unterhalb der Stelle, an der B12 absorbiert wird), kann es nicht absorbiert werden. Diese Theorie wird dadurch gestützt, dass viele Spezies komplett oder hauptsächlich vegetarischer Tiere ihre eigenen Fäkalien essen. Das Essen von Fäkalien ermöglicht es ihnen, bei einer pflanzlichen Ernährung B12 zu sich zu nehmen.

Der beste Beweis, den ich für diese Theorie gefunden habe, wurde von einem Wissenschaftler namens Herbert (1) dokumentiert. Herbert berichtet von einer Studie aus den 1950er-Jahren in England, in der veganen Freiwilligen mit Vitmin-B12-Mangel (sichtbar durch megaloblastische Anämie) B12-Extrakte verabreicht wurden, die aus ihrem eigenen Stuhl hergestellt worden waren – und dies beseitigte den Mangel. Herbert meinte, dies beweise, dass Dickdarmbakterien im Darm von Veganern genügend Vitamin B12 produzieren würden, um einen B12-Mangel aufheben zu können, aber dass das von den Dickdarmbakterien produzierte B12, statt absorbiert zu werden, ausgeschieden würde. Dies scheint ein überzeugender Beweis zu sein.   

Jedoch: In der von Herbert als Quelle angegebenen Studie („Callender ST, Spray GH. Latent pernicious anemia. Br J Haematol. 1962;8:230-40“) wird dieses Experiment überhaupt nicht erwähnt.

Es gibt eine weitere Studie von Callender und Spray, die sich so anhört, als ob sie eventuell die ist, die Herbert beschreibt: „Preparation of hematopoietically active extracts from faeces. Lancet 1951 (June 30):1391-2“ [Herstellung von in Hinsicht auf die Blutbildung aktiven Extrakten aus Kot.] Diese Studie wurde aber nicht mit Veganern durchgeführt, sondern mit Menschen mit perniziöser Anämie, die Vitamin B12 nicht richtig absorbieren konnten. Weil diese Menschen Vitamin B12 zu sich nahmen, könnte das B12 in ihrem Stuhl eventuell das von ihnen konsumierte B12 gewesen sein.
Auf der anderen Seite fanden sich, laut Untersuchungen mit Lactobacillus lactis Dorner und Lactobacillus leichmannii, beachtliche Mengen B12-Analoga im Stuhl dieser Personen (z. B. 5 µg pro 10 ml (2 Teelöffel)). Diese Menge scheint zu groß, um annehmen zu können, dass sie allein durch die Ernährung und den Leber-Darm-Kreislauf zustande gekommen wäre. Anscheinend waren einige dieser B12-Analoga aktiv – und es war genug vorhanden, um jeglichen inaktiven B12-Analoga in ihrem Stuhl entgegenzuwirken. Demnach liefert diese Studie einen guten Beweis, dass von Bakterien produziertes Vitamin B12 im Dickdarm, zumindest bei manchen Menschen, vorkommt.

Eine zu beachtende Variable ist, dass über 400–500 Bakterienspezies im Dickdarm des durchschnittlichen Menschen vorkommen und diese Bakterien sind noch nicht alle genau untersucht worden. Es ist gut denkbar, dass im Darm mancher Menschen B12-produzierende Bakterien in beachtlichen Mengen vorkommen, während das bei anderen eventuell nicht der Fall ist. Manche Bakterien im Verdauungstrakt absorbieren Vitamin B12 zu ihrer eigenen Verwertung, was die Situation noch weiter kompliziert.

Allen und Stabler fanden heraus, dass mehr als 98 % der B12-Analoga in menschlichem Stuhl inaktiv sind (2). Dies wurde bei Menschen mit einer konsistenten B12-Zufuhr beobachtet. Sie stellten fest, dass 81 % des zugeführten, aber nicht absorbierten B12s zerstört oder in inaktive Analoga umgewandelt wurde. Ob dies bei Menschen, die viel weniger oder gar kein B12 zu sich nehmen, auch der Fall ist, ist nicht bekannt.


Bakterien im Dünndarm
B12-Mangel wurde bisher relativ häufig bei vegetarisch lebenden, indischen Immigranten in England beobachtet, während er angeblich bei Menschen mit genau den gleichen Essgewohnheiten in Indien selten vorkommt (34). Gesunde Menschen in Indien haben viel erheblichere Mengen an Bakterien in ihrem Dünndarm als Menschen in westlichen Ländern (3).

Albert et al. (3) (1980) maßen die Vitamin-B12-Produktion im Dünndarm von Menschen in Indien – sie verwendeten eine Untersuchungsmethode mit Euglena gracilis Z. Die Ergebnisse wurden durch eine Untersuchung mit Ochromonas malhamensis bestätigt – von dieser Bakterienart wird angenommen, dass sie speziell auf aktives B12 reagiert. Sie stellten fest, dass eine gewisse Menge aktives B12 von einigen Arten der Bakteriengattungen Klebsiella und Pseudomonas hergestellt wurde. Weitere Bestätigungen dieser Ergebnisse durch Chromatografie und Bioautografie zeigten ein Molekül mit ähnlichen Eigenschaften wie Cyanocobalamin. Albert et al. spekulierten, ob, wenn Inder in westliche Länder ziehen, sich ihre Darmflora so verändert, dass sie Eigenschaften annimmt, die typisch für die Bewohner westlicher Länder sind, d. h. mit sehr wenigen bzw. keinen Bakterien im oberen Dünndarm. Ein Artikel in Nutrition Reviews (5) (1980) schlug einige weitere mögliche Gründe dafür vor, warum indische Immigranten im Vereinigten Königreich häufiger an B12-Mangel leiden als Menschen in Indien:

  • In Indien ist das Wasser mit verschiedenen Bakterien verunreinigt, einschließlich Bakterien aus menschlichen und tierischen Fäkalien.
  • Die Gewohnheit, die Notdurft auf offenen Feldern zu verrichten – und das Fehlen moderner Abwasserleitungen.
  • Die Gewohnheit, Wasser statt Toilettenpapier zu verwenden.

Es sollte auch beachtet werden, dass B12-Mangel in Indien keine Seltenheit ist (siehe Tabelle 1) (4), besonders bei Ovo-Lacto-Vegetariern mit niedrigerem Einkommen kommt er relativ häufig vor(6).





Tabelle 1   B12-Werte bei einer Gruppe von Indern im Alter von 27–55 (4)

Anzahl der Teilnehmer
durchschnittliches Serum-B12
Serum-B12 <203
MMA >0,26 µmol/l
HCY >15 µmol/l
Nicht-VegetarierA
Ovo-Lacto-VegetarierB
36
27
216
46 %
70 %
81 %C
A – Die Nicht-Vegetarier aßen im Allgemeinen nur geringe Mengen an tierischen Produkten.
B – Eine Person war vegan.
C – Niedrige Folatwerte könnten ebenfalls ein Grund für die hohen Homocysteinwerte gewesen sein.
HCY – Homocystein
MMA – Methylmalonsäure







Iranische Dorfbewohner

Halstead et al. (8) berichteten von einer Gruppe iranischer Dorfbewohner, die sehr wenige tierische Produkte zu sich nahmen (Milchprodukte einmal pro Woche, Fleisch einmal pro Monat) und die normale B12-Werte hatten. Keiner litt unter megaloblastischer Anämie. Ihre durchschnittlichen B12-Werte lagen bei 411 pg/ml, was in Anbetracht ihrer Ernährungsweise ziemlich hoch ist. Die Autoren spekulierten darüber, ob der Grund hierfür war, dass ihre äußerst proteinarme Ernährung es eventuell ermöglichte, dass B12-produzierende Bakterien hinauf in den Krummdarm wanderten, wo B12 absorbiert werden kann. Sie spekulierten auch, ob, weil die Dorfbewohner zusammen mit den Tieren der Bauernhöfe lebten und ihre Wohnbereiche übersät mit Fäkalien waren, sie genug B12 aufgrund von Verunreinigung zu sich nahmen.  



Der Bericht von Halstead et al. (1960) steht im Gegensatz zum Bericht von Wokes et al. (1955) (9), in dem bei zahlreichen britischen Veganern neurologische Symptome eines B12-Mangels festgestellt wurden.





Schlussfolgerung

Es ist möglich, dass manche Veganer einen sichtbaren B12-Mangel – oder sogar einen leichten B12-Mangel – durch B12 produzierende Bakterien im Dünndarm vermeiden können. Dies ist jedoch ein außergewöhnlicher Zustand, besonders in westlichen Ländern – und man sollte sich nicht darauf verlassen (auch Rohköstler nicht).  





Quellenangaben

1. Herbert V. Vitamin B-12: plant sources, requirements, and assay. Am J Clin Nutr 1988;48:852-8.

2. Allen RH, Stabler SP. Identification and quantitation of cobalamin and cobalamin analogues in human feces. Am J Clin Nutr. 2008 May;87(5):1324-35.

3. Albert MJ, Mathan VI, Baker SJ. Vitamin B12 synthesis by human small intestinal bacteria. Nature. 1980;283(Feb 21):781-2.

4. Refsum H, Yajnik CS, Gadkari M, Schneede J, Vollset SE, Orning L, Guttormsen AB, Joglekar A, Sayyad MG, Ulvik A, Ueland PM. Hyperhomocysteinemia and elevated methylmalonic acid indicate a high prevalence of cobalamin deficiency in Asian Indians. Am J Clin Nutr. 2001 Aug;74(2):233-41.

5. No author. Contribution of the microflora of the small intestine to the vitamin B12 nutriture of man. Nutrition Reviews. 1980 Aug;38(8):274-5.

6. Sarode R, Garewal G, Marwaha N, Marwaha RK, Varma S, Ghosh K, Mohanty D, Das KC. Pancytopenia in nutritional megaloblastic anaemia. A study from north-west India. Trop Geogr Med. 1989 Oct;41(4):331-6.

7. Antony AC. Prevalence of cobalamin (vitamin B-12) and folate deficiency in India--audi alteram partem. Am J Clin Nutr. 2001 Aug;74(2):157-9.

8. Halsted JA, Carroll J, Dehghani A, Loghmani M, Prasad A. Serum vitamin B12 concentration in dietary deficiency. Am J Clin Nutr. 1960 May-Jun;8:374-6.

9. Wokes F, Badenoch J, Sinclair HM. Human dietary deficiency of vitamin B12. Am J Clin Nutr. 1955 Sep-Oct;3(5):375-82.