Rohkosternährung



Das stärkste Argument gegen eine komplette Rohkosternährung ist das Fehlen von überzeugenden Argumenten für eine solche Ernährungsweise. Zuerst ist es wichtig festzustellen, dass es viele verschiedene Arten von Rohkosternährung gibt: ausschließliche oder hauptsächliche Rohkost, vegane, ovo-lacto-vegetarische oder nicht-vegetarische, Obst-basierte oder Sprossen-basierte oder Rohkostformen mit oder ohne Hülsenfrüchte, Getreide, Nüsse, Öle, Säfte, Gewürze etc. Im Folgenden soll es nur um vegane Rohkosternährungsweisen gehen. 

Heute noch weit verbreitete Ideen, u. a., dass eine reine Rohkosternährung die „natürlichste“ Ernährungsweise sei, dass sie deshalb die gesündeste sei und dass Getreide und Hülsenfrüchte eigentlich suboptimale Lebensmittel wären, kamen schon vor weit über 100 Jahren Ideen vor. Wenn man diesen (unbewiesenen) Ideen folgt und sich ausschließlich von Obst, Gemüse, Nüssen und Samenkernen ernährt, ist es wahrscheinlich, dass es zu einer suboptimalen bis unzureichenden Zufuhr bestimmter Nährstoffe kommt – was durch gute Planung aber vermieden werden kann.

Zu beachtende Nährstoffe und mögliche Quellen (siehe auch die Empfehlungen für Veganer):
  • Vitamin B12: Supplemente (1–4)
  • Protein (insbesondere die Aminosäure Lysin, aber auch mengenmäßig ausreichend Protein): große Mengen Hülsenfruchtsprossen und rohes Proteinpulver und evtl. sehr große Mengen grüner Säfte (5)
  • Kalzium: kalziumreiches Wasser, grüne Blattgemüse (kalziumreich, oxalsäurearm), evtl. ein Supplement (6)
  • Vitamin D: Sonnenschein (6) oder ein Supplement
  • Jod: Algen, Jodsalz oder ein Supplement
  • Omega-3-Fettsäuren: z. B. Walnüsse, Leinsamen, Hanfsamen, Chiasamen
  • Eisen und Zink: große Mengen Hülsenfrucht- und Getreidesprossen
  • Selen: kleine Mengen Paranüsse
  • Provitamin A: Säfte aus Karotten oder grünem Blattgemüse (7)

Bestimmte Lebensmittel sind im Allgemeinen in roher Form empfehlenswerter – insbesondere Obst und kaltgepresste Öle (besonders stark ungesättigte kaltgepresste Öle wie Leinöl). Bestimmte Nährstoffe werden aus gekochten Lebensmitteln besser absorbiert, z. B. Lycopen (aus Tomaten) und Betacarotin (Provitamin A) (7, 8). Kochen sowie die Brotherstellung mit Hefe oder Sauerteig verbessern die Absorption von Mineralien wie Eisen und Zink aus Getreide. Nicht roh verzehrt werden sollten u. a. Kidneybohnen und kleine rote Bohnen, Maniok (Cassava), Bambussprossen und (idealerweise) Pilze. Ein hoher Obstverzehr kann durch Obstsäuren und Fruchtzucker den Zahnschmelz angreifen – fluoridhaltige Zahncreme und eine gute Mundhygiene sind empfehlenswert (9–11). (Man sollte nicht direkt nach dem Essen von säurehaltigen Lebensmitteln - z. B. Orangen oder Grapefruits - die Zähne putzen, sondern vorher den Mund mit Wasser ausspülen.) 

Zu beachten ist, dass in der Rohkostliteratur vielfach beschriebene „Entgiftungsphasen“ (Detox) oft tatsächlich Nährstoffmängel widerspiegeln. Typische Symptome starken Untergewichts sind z. B. eine reduzierte Muskelmasse, Muskelkraft und Knochendichte, das Ausbleiben der Menstruation (Amenorrhö) (12), eine hohe Kälteempfindlichkeit und ein geschwächtes Immunsystem.

Für Sportler, die sehr hohe Kalorienmengen zuführen, ist es wahrscheinlich einfacher, mit Rohkosternährung ausreichende Mengen von Mikronährstoffen (aus nicht-angereicherten Lebensmitteln) zuzuführen (13) – dies gilt nicht für Vitamin B12 oder Vitamin D.

Eine Rohkosternährung kann – wie andere gesunde Ernährungsformen – dabei helfen überschüssiges Körpergewicht zu verlieren und damit einhergehend die Gesundheit der Arterien zu verbessern (2, 14, 15).     

Besonders beachtenswert ist, dass Rohkosternährung für Babys und Kleinkinder ungeeignet ist, da deren Magenvolumen klein ist, was eine ausreichende Nährstoffzufuhr erschwert. Auf keinen Fall sollte man sich bei Erkrankungen auf die (geglaubte) „Natürlichkeit“ und die damit einhergehende (erwünschte) „Heilkraft“ einer Rohkosternährung verlassen. Stattdessen sollte die Ernährung sehr gut geplant werden (bei Kindern: moderater Ballaststoffgehalt (16)) und eine ausreichende Zufuhr an Kalorien und den oben genannten Nährstoffen muss sichergestellt werden. Bei Kindern muss das Wachstum und die geistige und körperliche Entwicklung gut überwacht werden (17). Unter anderem in England, den USA und Deutschland gab es einzelne Fälle von Babys oder Kleinkindern, die infolge bestimmter Rohkosternährungsformen starben – eine Ernährung bestehend aus hauptsächlich Obst, Gemüse und Nüssen oder aus hauptsächlich Weizengrassaft, Kokosnusswasser und selbstgemachter Mandelmilch bzw. aus hauptsächlich selbstgemachter Mandel- und Kokosmilch (18). Die Lektion aus diesen Fällen ist nicht, dass eine Rohkosternährung unter allen Umständen schlecht sein muss, sondern dass eine Mischung aus Naturglauben, Rohkosternährung und einer völligen Ablehnung von Supplementen und moderner Medizin ein tödliches Rezept sein können (17). (Eine gewisse Kritik an den gegenwärtigen Gesundheitssystemen, u. a. dem Fehlen der gewichtigsten Einflussfaktoren auf die Gesundheit, nämlich Ernährung und Lebensstil, und an der Art und Weise, wie Medizin oft praktiziert wird, ist durchaus berechtigt. Aber ein komplettes Ablehnen der modernen Medizin kann ebenfalls sehr gefährlich sein.)  

Schon bevor es den Homo sapiens gab, verwendeten unsere Vorfahren Feuer und kochten ihre Nahrung. Nichts deutet darauf hin, dass sich unsere Spezies im Laufe der Evolution an eine ganz bestimmte Ernährungsform angepasst hätte – und dass diese Ernährungsweise dann die gesündeste wäre. Anders als wilde Spekulationen über die Evolutionsgeschichte liefert die heutige Ernährungsepidemiologie eine starke wissenschaftliche Evidenz dafür, dass ein pflanzenbasiertes Ernährungsmuster, basierend auf Obst, Gemüse, Hülsenfrüchten, Vollkorngetreide, Nüssen und gesunden Ölen die Gesundheit fördert (19, 20).

An Rohkost Interessierten ist besonders das Buch von Vesanto Melina und Brenda Davis „Becoming raw“ zu empfehlen (21).



Quellenangaben

1. Yunatskaya TA, Turchaninova NS, Kostina NN. Hygienic assessment of nutrition in vegetarians and people with mixed feeding. Gig Sanit 2015; 94:72–5.

2. Koebnick C, Garcia AL, Dagnelie PC, Strassner C, Lindemans J, Katz N, Leitzmann C, Hoffmann I. Long-term consumption of a raw food diet is associated with favorable serum LDL cholesterol and triglycerides but also with elevated plasma homocysteine and low serum HDL cholesterol in humans. J Nutr 2005; doi:10.1093/jn/135.10.2372.

3. Hobbs SH. Attitudes, practices, and beliefs of individuals consuming a raw foods diet. Explore (NY) 2005; doi:10.1016/j.explore.2005.04.015.

4. Donaldson MS. Metabolic vitamin B12 status on a mostly raw vegan diet with follow-up using tablets, nutritional yeast, or probiotic supplements. Ann Nutr Metab 2000; doi:10.1159/000046689.

5. Cheeke R. Vegan bodybuilding and fitness. The complete guide to building your body on a plant-based diet. Healthy Living; Publishers Group UK [distributor]: Summertown, Tenn., Enfield, 2011.

6. Fontana L, Shew JL, Holloszy JO, Villareal DT. Low bone mass in subjects on a long-term raw vegetarian diet. Arch Intern Med 2005; doi:10.1001/archinte.165.6.684.

7. Garcia AL, Mohan R, Koebnick C, Bub A, Heuer T, Strassner C, Groeneveld MJ, Katz N, Elmadfa I, Leitzmann C, et al. Plasma beta-carotene is not a suitable biomarker of fruit and vegetable intake in german subjects with a long-term high consumption of fruits and vegetables. Ann Nutr Metab 2010; doi:10.1159/000262295.

8. Garcia AL, Koebnick C, Dagnelie PC, Strassner C, Elmadfa I, Katz N, Leitzmann C, Hoffmann I. Long-term strict raw food diet is associated with favourable plasma beta-carotene and low plasma lycopene concentrations in Germans. Br J Nutr 2008; doi:10.1017/S0007114507868486.

9. Strużycka I, Rusyan E, Bogusławska-Kapała A. Erozje zębów - problem interdyscyplinarny. [Tooth erosion - a multidisciplinary approach]. Pol Merkur Lekarski 2016; 40:79–83.

10. Ganss C, Schlechtriemen M, Klimek J. Dental erosions in subjects living on a raw food diet. Caries Res 1999; doi:10.1159/000016498.

11. O'Toole S, Bernabé E, Moazzez R, Bartlett D. Timing of dietary acid intake and erosive tooth wear: A case-control study. J Dent 2017; doi:10.1016/j.jdent.2016.11.005.

12. Koebnick C, Strassner C, Hoffmann I, Leitzmann C. Consequences of a long-term raw food diet on body weight and menstruation: results of a questionnaire survey. Ann Nutr Metab 1999; doi:10.1159/000012770.

13. Leischik R, Spelsberg N. Vegan triple-ironman (raw vegetables/fruits). Case Rep Cardiol 2014; doi:10.1155/2014/317246.

14. Fontana L, Meyer TE, Klein S, Holloszy JO. Long-term low-calorie low-protein vegan diet and endurance exercise are associated with low cardiometabolic risk. Rejuvenation Res 2007; doi:10.1089/rej.2006.0529.

15. Douglass JM, Rasgon IM, Fleiss PM, Schmidt RD, Peters SN, Abelmann EA. Effects of a raw food diet on hypertension and obesity. South Med J 1985; doi:10.1097/00007611-198507000-00017.

16. Amoroso S, Scarpa M-G, Poropat F, Giorgi R, Murru FM, Barbi E. Acute small bowel obstruction in a child with a strict raw vegan diet. Arch Dis Child 2019; doi:10.1136/archdischild-2018-314910.

17. Cundiff DK, Harris W. Case report of 5 siblings: malnutrition? Rickets? DiGeorge syndrome? Developmental delay? Nutr J 2006; doi:10.1186/1475-2891-5-1.

18. Koeder C. Veganismus. Für die Befreiung der Tiere. 1. Auflage. Koeder: Ellwangen, 2014.

19. Willett W, Rockström J, Loken B, Springmann M, Lang T, Vermeulen S, Garnett T, Tilman D, DeClerck F, Wood A, et al. Food in the Anthropocene: the EAT–Lancet Commission on healthy diets from sustainable food systems. The Lancet 2019; doi:10.1016/S0140-6736(18)31788-4.

20. Satija A, Hu FB. Plant-based diets and cardiovascular health. Trends Cardiovasc Med 2018; doi:10.1016/j.tcm.2018.02.004.

21. Davis B, Melina V, Berry R. Becoming raw. The essential guide to raw vegan diets. Book Publishing Company: Summertown, Tennessee, 2010.